AchanNeu2

War alles schlecht? Beileibe nicht. Aber als Jahr der gesellschaftlichen Highlights kann sich das vergangene vorerst nur behaupten, wenn man es an seinen geistigen, geschmacklichen und politischen Tiefpunkten misst. Vielleicht auch seinen „Facepalm“-Momenten, den meist-gesagten Sätzen und den absurdesten Online-Phänomenen.

Und natürlich an der Zahl verstorbener Ikonen. Es war ein Exodus, der denkbar schockierend anfing, zwischendrin immer deprimierender wurde und auf den letzten Metern nochmal richtig dreist anzog. Wir kamen nicht mehr nach mit dem posten von Lieblings-Songs, Zitaten, Filmszenen und Interviews, und während ich diese Zeilen tippe, merke ich, dass auch mich ein plötzliches Dahinscheiden von Keith R… nein, ausgeschlossen, Betty White mehr aus den Socken hauen würde, als wenn jemand was von aktuellen Kriegsschauplätzen postet. Das, was z.B. in Aleppo passiert, ist so schlimm, dass ich die Bilder und Videos sehe und sie mich entsetzen, ich sie dann aber wieder konsequent verdränge und irgendwo weit weg von meinem Alltag verorte. Zu vielen aufgeklärten Menschen geht es so – was ist das nur für 1 Status Quo (✝ Rick Parfitt)! Ich dachte heute, dass man sich bei allem, was die Welt sich da bei ihrer Drehung zurecht eiert, nicht wundern muss, wenn große Geister, die ihren Teil für das kulturelle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Erbe eindeutig geleistet haben, sich schleunigst aus dem Staub machen – vielleicht auch, weil die Energie für den augenblicklichen Paradigmen-Wechsel nicht mehr reicht. Das ist immerhin eine hoffnungsvollere Perspektive, als die andere Version: Dass so eine Welt aussieht, die von allen guten Geistern verlassen ist, weil letztere gegenwärtig evakuiert werden und ab jetzt alles nur noch schlimmer wird.

Aber mal ganz von vorne. 2016, was ging in dir vor? Begonnen hast du hierzulande mit einem Massen-Sexualverbrechen und damit gleich den Grundtenor der folgenden364 Tage angeschlagen. Es ging vor allem um Wut, basierend auf Angst und einer gewissen Machtlosigkeit. Hier zeigte sich für mich zum ersten Mal glasklar, wie bestimmte politische Strömungen damit Erfolg haben konnten, genau aus diesen Gefühlen, sowie der Unfähigkeit der alten Medien mit der rapiden Verbreitung gefühlter Wahrheiten umzugehen, Kapital zu schlagen. Hilfe gab es vom allseits plötzlich wieder sehr beliebten Zwillings-Paar „Sexismus und Rassismus“. Wie gut diese beiden miteinander können, zeigt sich unter anderem darin, dass die Opfer jener dunkelsten aller Nächte kaum gehört wurden, die Nationalität der Täter aber mit statistischer Genauigkeit der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden musste. Und erinnert ihr euch noch an jenes unsägliche Titelblatt mit der nackten weißen Frau und den schwarzen Händen drauf? Die große Debatte um das Frauenbild von Flüchtlingen wurde mit einer Ernsthaftigkeit und Doppelbödigkeit (von der BILD! an vorderster Front) geführt, dass man sich fragen muss, was genau denn ein Land, in dem es lediglich einen Raumverweis wert ist, als Zuschauer beim Prozess um ein Sex-Video, das möglicherweise eine Vergewaltigung zeigt, im Gerichtssaal ein weiteres Sexvideo anzubieten, dem vorsintflutlichen Immigranten über Frauenbilder beibringen möchte. Integrationskurs beim Oktoberfest vielleicht?

Überhaupt war die Causa Gina-Lisa-Lohfink vor allem in zwei Punkten erhellend: 1. Viele Deutsche wissen trotz inflationärem Gebrauch nicht, ob man nun „Votze“ oder „Fotze“ schreibt. 2. Was „Nein“ heißt, ist scheinbar öffentliche Verhandlungssache. Ein Raunen der Erleichterung ging durch die Kommentarspalten, als gerichtlich verfügt wurde, dass sie gelogen habe und es auch weiterhin völlig legitim sein würde, die Frau mit diversen Synonymen für „käuflichen Dame“ zu betiteln. Gina-Lisa Lohfink würde ich nicht sein wollen. Damit ist man in dieser Öffentlichkeit fast so unbeliebt, wie eine Frau, die Fußball kommentiert. Bei Sophia Thomallas und Micky Beisenherz‘ leicht entgleistem Twitter-Experiment – einem provokanten Tweet, der Flüchtlinge in Bezug zu kleinen Brüsten setzte – zeigte sich wie heilig der Zorn der liberalen Elite sein kann. Wo im Fall Böhmermann die Satire noch „alles“ durfte, durfte sie es beim vollbusigen Promi-Sternchen, das vorgab Trump gut zu finden eben nicht. Hashtag: Danke, Merkel!

Im großen und ganzen war es nahezu possierlich, als sich für einen strahlenden Moment die Rechts-Populisten mit den Links-Liberalen vertrugen, um allgemeines Kanzlerinnen-Bashing zu betreiben, weil Deutschlands liebster Polizistensohn dem „Ziegenficker“ zum Fraß vorgeworfen werden sollte. Sein Gedicht, zunächst ohne Kontext auf der Fanseite erschienen, sollte in all seiner rassistisch-geschmacklosen Glorie ja eben nur genau irgendwas aufdecken, was ich trotz zahlreicher Erklärungsversuche im anschließenden öffentlichen Eklat wieder vergessen habe. Ich habe aber gehört, Böhmermann habe einen Preis für Popkultur bekommen und es gehe ihm mittlerweile wieder gut. Der Rechtsstaat leistete letztlich, wofür er verantwortlich ist. Natürlich hätte die Kanzlerin anders reagieren können und sogar müssen, wenn da kein außenpolitischer Druck bestanden hätte. Darüber haben wir uns längst ausgestritten. Ich will aber auf was anderes hinaus. Aufgrund meiner eigenen Geschichte fiel mir in diesem Moment zum ersten Mal richtig auf, dass die Demokratie hierzulande zunehmend eine Art selbstverletzendes Verhalten an den Tag legt, in dem sie mit immer auffälliger werdender Vehemenz an ihre bröckelnden Grenzen stößt. Das innere Drama war augenscheinlich überall, die Aggression wurde stärker, der moralische Finger puhlte in der Wunde. Unabhängig vom Negativ-Zins und der Tatsache, dass auch in Dunkeldeutschland niemand verhungern muss, herrschte der Konsens, dass ja alles den Bach runtergehe.

Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: 2016 war kein Jahr der guten Inhalte. Es wurde in Mustern operiert und gespalten. Politische Gesinnung war am Sprech erkennbar. Die Alternative zur völkisch-wutbürgerlichen Krawatte war das chronisch beleidigt zur Schau getragene Freundschaftsbändchen namens „Political Correctness“. Die politisch Korrekten führten teilweise aus Angst und teilweise leider auch mit den besten Absichten unter dem Vorwand der Inklusion ihre eigenen Überzeugungen ad absurdum. So wurde einem befreundeten Comedian in einer Kolumne das N-Wort gegen „Türke“ ersetzt; eine befreundete linke Musikerin, die auf einem ihrer Konzerte ironisch die „Lügenpresse“ in Schutz nahm, wurde dafür im Radio zensiert. Und KissFM erlebte eine Sternstunde der Unlogik mit einem Nazi-Rapper als Gast und einem jüdischen Schriftsteller, der trotz Ankündigung nicht zugeschaltet wurde, um keine Gefühle zu verletzten. Ein System, in dem nicht genug Platz für komplexere Vorgänge ist, neigt dazu, sich stetig zu re-traumatisieren. Plötzlich krochen sie aus ihren Löchern, die gestörten Amokläufer mit Identitätsproblemen, wie kleine Mikrokosmen einer gesamtgesellschaftlichen Zerrissenheit und Ambivalenz, die zu immer kleinteiligerer Spaltung führt. Überleg mal – CLOWNS! Jugendliche, die Obdachlose anzünden! Terror auf dem Weihnachtsmarkt!

Und immer wieder lud uns Social Media zum Schlachtfest ein: Mit wachsender Begeisterung und Chuzpe profitierten die Mausrutscher und Trumps von der Möglichkeit, im Internet ihre Meinung frei (von Konsequenz) und möglichst unverschämt formuliert einer breiten Öffentlichkeit vor die Füße zu kotzen. Man konnte später ja alles wieder relativieren, denn da war schon alles erreicht, was es zu erreichen galt – weil die Wahrheit in solchen Zeiten denen gehört, die am lautesten schreien. Zum Jahresende hat uns das Gefühlchaos endlich vollumfänglich erreicht und zwischen der allgemein vorherrschenden Verwirrung, der wir oft nur noch mit Zynismus begegnen, bricht sich der Hass immer schneller die Bahn. Der U-Bahn-Treter kam gerade rechtzeitig, um mehrheitlich festzustellen, dass es wirklich reicht und die Todesstrafe wieder her muss.

Auch ich hatte dieses Jahr viele Gefühle: Als mich die Polizei wahrscheinlich nur aufgrund meiner Hautfarbe aus einem Auto gezerrt und auf den Boden geworfen hat, war ich wütend. Als mir weiße Männer erzählen wollten, dass ich Beyoncés Album LEMONADE aus feministischen Gründen doch nicht gut finden könne, war ich beleidigt (und ich bin nicht mal Fan). Als ich mich von Männern in Frankfurt an der Oder als „David Alaba mit geilem Arsch“ betiteln lassen musste, war ich amüsiert. Als ich jemanden des Rassismus bezichtigte, weil er mich in einem Versuch weltoffen zu sein, auf Englisch ansprach, fühlte ich mich ertappt. Als ich offensichtlich nicht genügend über die echten Probleme auf diesem Planeten nachgedacht hatte, war es mir peinlich. Als ich lernte, dass es einen Begriff namens „Whataboutism“ gibt, fand ich das sehr schlau. Als mir eine Freundin sagte, „Feminismus“ habe mit ihr nichts zu tun, fand ich sie dumm. Als ich eine Fotoserie von einem Bekannten aus Aleppo und darin ein totes Kind mit grotesk zerbrochenem Bein in bunten Gummistiefeln sah, habe ich geweint. Als Donald Trump Präsident wurde, habe ich gelacht, weil andere überrascht waren. Als ich über die Implikationen für die Bundestagswahl 2017 nachdachte, bekam ich Angst. Als ich mich daraufhin wieder vermehrt auf politische Diskussionen einließ, war ich grimmig. Und als Carrie Fisher kurz vor dem Jahreswechsel „eins mit der Macht wurde“, war ich wie so oft in diesem Jahr traurig.

Ich hatte 2016 zahlreiche glückliche Momente, kann mich aber am Schluss des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Zeiten drastisch ändern und wir nicht mehr auf alte Leitbilder zurückgreifen können, die uns vorleben, wie wir sein sollen, sondern selbst in der Pflicht sind, neue zu formulieren. Die Entscheidung darüber, wie man als einzelner zur Veränderung, die man erleben will, beiträgt, ist im besten Fall jedem selbst zu überlassen – sonst sitzen wir 2018 noch hier und diskutieren darüber. 2017 heißt es für mich zum Beispiel von Angesicht zu Angesicht Ideen zu Themen, die mich interessieren und in denen ich was bewegen möchte auszutauschen und aktiv zu werden; mich von falsch verstandenem Demokratie-Verständnis und Political Correctness nicht einlullen zu lassen; mich weder mit sprachlichen Spitzfindigkeiten, noch auf Allgemeinplätzen aufzuhalten; mehr Wert auf Inhalte zu legen und keine vorschnellen Urteile mehr zu fällen; immer weiter zu konfrontieren und zu kommunizieren. Ich nehme mir das vor, weil ich zumindest die Menschen in meiner näheren Umgebung genug mag, um für sie und mit ihnen eine ganze Welt retten zu wollen.

  Text: Frau Malonda, Foto: Philip Nürnberger