Grace&Frankie

„Wir sind alle anders. Wir sind alle gleich!“ Das ist das Motto des heutigen CSD in Berlin. Der Christopher Street Day ist die Party von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern rund um die Siegessäule. Mit 42 geschmückten Wagen wird für gleiche Rechte und gegen Ausgrenzung und Diskriminierung demonstriert – und getanzt! Sicherlich auch wegen des Na-endlich-Beschlusses gestern aus Amerika: Mit einem historischen Urteil hat das Oberste US-Gericht Schwulen und Lesben nun in ganz Amerika erlaubt zu heiraten. Mit Hashtag „LoveWins“ twittert auch Obama über den Sieg für Amerika auf dem Weg zur Gleichberechtigung. Sogar das Foto des Weißen Hauses auf Twitter und Facebook prangte in den Regenbogenfarben. Wir sind also ein Schritt weiter. Gut so.

Aber es gibt noch viel zu tun. Deshalb wollen wir an dieser Stelle einmal die Aufmerksamkeit auf die lenken, die in der Gesellschaft durchs Raster fallen, nicht wahrgenommen werden oder aus ihrem Familien-Korsett nicht mehr rauszukommen scheinen: Homosexuelle Menschen ab 65 Jahre. Hipster, 25, Berlin Mitte, schwul – kein Thema mehr. Rechnet man 40 Jahre bei dem Mann drauf, sieht das schon ganz anders aus. Selbst in einer bunten Stadt wie Berlin.

Sensibel, aber mit viel Witz und Charme näherte sich die Netflix-Serie „Grace & Frankie“ dem Thema. Schon die Anfangsszene ist todernst und doch komisch: Sitzen zwei Paare im Schicki-Micki-Restaurant und die Männer haben den Frauen etwas Wichtiges mitzuteilen. Und das ist nicht, wie von den Damen erwartet, der Ruhestand der beiden Anwälte, sondern die Ehemänner outen ihre Liebe. Nach 40 Jahren Ehe wollen sie ihre Frauen verlassen. Die gehörnte Ehefrau, fantastisch gespielt von Jane Fonda (77), schmeißt erst mal mit der Fischplatte um sich, als ihr Mann Robert alias Martin Sheen (74) ihr mitteilt, dass er seinen Geschäftspartner auch gleich heiraten will. Die Serie ist super erfolgreich – weil dieses Thema eben existiert, auch wenn kaum einer darüber spricht.

Sheen

Nach einer Schätzung des Senats leben allein in Berlin ca. 40 000 homosexuelle Frauen und Männer, die älter als 65 Jahre sind. Öffentlich machen es allerdings sehr wenige und die meisten führen ein soziales Doppelleben. Brainbitch fragt nach bei Erziehungswissenschaftler Dr. Marco Pulver (53), der seit vierzehn Jahren in der Schwulenberatung Berlin tätig ist. Er steht Männern zur Seite, die sich outen möchten oder spricht mit den Ehefrauen und Familien, die nicht wissen, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollen. „Für die ältere Generation ist es sehr schwer. Sie haben ihr ganzes Leben Diskriminierung und Verfolgung mitbekommen und haben oftmals deshalb so lange eine Lüge gelebt. Ein Outing bedarf sehr viel Mut und Selbstvertrauen“, sagt er.

„In diesem Lebensabschnitt überlegt man sich dreimal, ob man zu seiner sexuellen Orientierung stehen möchte und eventuell seine Familie dafür verlässt. Viele haben Angst, dass sich auch die Kinder abwenden und dass sich dann niemand im Alter um sie kümmert.“ Tatsächlich brechen Familien meistens nach diesem drastischen Schritt auseinander, bestätigt Dr. Pulver. Die Ehefrau und die Kinder fühlen sich betrogen oder empfinden sogar oft Ekel. „In der Beratung weisen wir dann darauf hin, dass sich Männer oft erst so spät outen, um die Kinder zu beschützen. Viele warten, bis der Nachwuchs selbständig ist und diese Veränderung besser verkraften. Wir können nur in vielen Gesprächen versuchen, für gegenseitiges Verständnis zu sorgen.“

Auch wenn es nicht leicht fällt, reden hilft: In der Schwulenberatung Berlin gibt es zum einen den Gesprächskreis „Anders Altern“ und die Gruppe „Coming Out“ – jeder kann kommen und reden. Neben herkömmlichen Familientherapien gibt es auch Selbsthilfegruppen für Ehefrauen eines schwulen Mannes. „Wir wollen sie unterstützen und das Gefühl geben, dass sie nicht allein dastehen. In den Gruppen werden die Ängste thematisiert und vielleicht auch genommen. Wir trainieren Selbstsicherheit und den sensiblen Umgang mit dem Thema und dem Umfeld“, sagt Pulver. Übrigens erzählt er auch, dass ein Coming Out einer lesbischen Oma in der Gesellschaft nicht so ernst genommen wird, lesbsiche Liebe wird immer als Phase oder als kurze Orientierungs-Schwäche von Konservativen wahrgenommen. Auch scheiße.

Am heutigen CSD stoßen wir also auf die homosexuellen Alten an, auf dass ihr euch traut und auch händchenhaltend mit dem Geschlecht eurer Wahl altern könnt.

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Fotos: Netflix, Eadweard Muybridge