Ruth1.jpg

Normalerweise schaltet sie beim Freeskiing den Kopf aus. 2009 denkt sie bei einem Backflip nach, zwei Sekunden zu lang und landet auf dem Rücken: Schmerzen, Morphium, Hubschrauberflug, Krankenhaus, Brustbein gebrochen, Rücken gebrochen – die Beine taub. Für immer. Das ist Ruth Hagspiels Schicksal im Schnelldurchlauf.

Seit ihrem Unfall sitzt sie im Rollstuhl, sieht das Leben jedoch nicht weniger sportlich: Ihr Herz schlägt auch mit Handicap für die Berge, die Geschwindigkeit und den Schnee. Die 23-Jährige fährt heute Monoski im Landeskader Bayern und trainiert mit der Nationalmannschaft.

Brainbitch darf beim Inklusionswochenende des Bildungs- und Sozialwerks CJD  in Berchtesgaden teilnehmen. Dort fällt uns Ruth sofort auf: Sie strahlt, lacht herzlich, witzelt gleichermaßen mit den Sportlern mit und ohne Behinderung. „Ich möchte nicht stigmatisiert sein. Ich habe durch meine Behinderung viele coole Menschen kennengelernt, aber ich hänge jetzt nicht nur mit Rollstuhl-Fahrern ab. Das würde mich vielleicht runterziehen. Ich habe viele Freunde, die völlig gesund sind und ein normales Leben führen. Und das lässt mich auch normal sein. Dadurch, dass ich nicht mit Handicap auf die Welt kam, kann ich mich in beiden Welten bewegen. Ich verstehe beide Seiten,“ erklärt uns Ruth. Sie studiert an einer normalen FH in Kempten, fährt Handbike und Auto.

Ruth2

Eine junge Frau, die kein Mitleid will – und auch nicht braucht. In unserem Interview killen ihr Humor und der unerschütterliche Positivismus jeglichen mitleidigen Gedanken: „Bevor ich im Rollstuhl saß, bin ich nicht immer sofort mit Begleitperson für lau in einen Club gekommen. Man glaubt gar nicht, wie schnell eine Rollstuhlfahrerin einen Drink ausgegeben bekommt“, lacht sie. „Ich kann auch umsonst Zug fahren. Der Schwerbehinderten-Ausweis ist manchmal wie so ein VIP-Band.“

Natürlich ist das nur die eine Seite der Medaille. Es wäre wohl ignorant oder besser gesagt naiv, hier einen Text nur nach dem Motto „Lieber Bein tot, als arm dran“ abzuliefern. Nicht laufen zu können, ist scheiße. Und es gibt auch in Ruths Leben genügend Tage, an denen ihr die Kraft oder die Geduld fehlt, immer die gleichen Fragen zu beantworten oder die gleichen Sätze zu kommentieren: „‚Ist das für immer?‘ ‚Voll cool, dass du feiern oder skifahren kannst, obwohl du behindert bist‘ und ‚Ey, sag mal, wie ist das denn beim Sex‘ kommt ständig – meine Antworten richten sich nach meiner Laune: Manchmal leiste ich Aufklärungsarbeit, manchmal verarsch‘ ich den Fragesteller und manchmal sage ich auch, dass ich eine Frage unangemessen finde“, erklärt Ruth. Sie ist ein junges und hübsches Mädchen, ganz unverständlich ist die Neugier für den Sex mit Handicap  nicht:  „Oft sag ich so etwas wie ‚Na, erzähl doch mal wie dein Sexleben so ist‘ , aber normalerweise kann ich es mir nicht verkneifen, dann doch eine kurze Erklärung wie ‚alles dufte“ abzugeben, auch wenn das vielleicht ein bisschen peinlich oder rechtfertigend klingt.“

An diesem Wochenende bekamen wir ehrliche Worte zu hören, viele Rollstuhlfahrerwitze und einiges zum Nachdenken. Es war toll, Menschen zu treffen, die auch Chancen in einer körperlichen Behinderung sehen und sich nicht aufgeben. Sport als Antrieb zu nehmen, sich ins Leben und die Normalität zurückzukämpfen und dafür an Erfolgserlebnissen zu wachsen, ist der richtige Weg. Und der ist mit dem Rollstuhl machbar. Auch wenn Ruth für immer sitzt, kann man nur zu ihr aufschauen.